Ägyptische Ausgrabungsstätte Narmuthis, (C) Franziska Naether

"As if a building was being constructed" -

Studien zur Rolle der Geschichte in den Romanen Adam Thorpes:
Die erste Monographie zum Romanwerk des britischen Autors.

Als ob ein Gebäude konstruiert würde - so beschreibt Adam Thorpe den Prozess der historiographischen Forschung. Es handelt sich um ein artifizielles Konstrukt der Gegenwart. Wie ein U-Bahn-Schacht, der durch den Boden getrieben wird, stellt sich das Eindringen des Historikers in die Vergangenheit als ein Akt der Gewalt dar. Im Gegensatz zur Gegenwart besitzt die Vergangenheit keine feste Substanz. Der Vergangenheit durch Interpretation eine Struktur aufzuzwingen erscheint als ein ebenso unmögliches Unternehmen wie der Bau einer U-Bahn in der ägyptischen Wüste. Die unterschiedlichen Konzeptionen von Geschichte(n) und Geschichtsschreibung stellen bereits seit dem Erscheinen von Ulverton (1992) zentrale Anliegen des britischen Autors dar.
    Diese erste Monographie zum Romanwerk Thorpes setzt es sich zum Ziel, Diskontinuitäten und Brüche eines Begriffs aufzuzeigen, der angesichts der Multiperspektivität und Polyphonie von Thorpes Romanen ausschließlich im Plural, in Form von erzählten "Geschichten", denkbar ist.

    Der theoretische Teil der Arbeit untersucht unterschiedliche Ausprägungen von Geschichtswissenschaft und Gedächtniskultur in der Gegenwart sowie Formen und Phänomene des historischen Romans der Gegenwart im Kontext der so genannten Postmoderne- und posthistoire-Diskussion.Ausgehend von Georg Lukács Untersuchung zum historischen Roman, die auf einem mimetischen Literaturbegriff im platonischen Sinne basiert und eine "konkrete Erfassung der Geschichte als Geschichte" als grundlegendes Desiderat der Gattung des historischen Romans formuliert, ließ sich über die Kritik an dieser Konzeption des historischen Romans im Sinne einer mimetischen Rekonstruktion historischer Fakten eine Erweiterung und Veränderung des Genres nachweisen. Während das mimetische Konzept noch von der Existenz einer objektiven Wirklichkeit ausgeht, bildet sich seit Beginn der Neuzeit mit dem Wirklichkeitsbegriff der "Realisierung eines in sich stimmigen Kontexts" eine neue Auffassung von Realität heraus, welche die Entscheidung über "die Wahrheit" auf das Individuum überträgt. Es kommt zu einer Subjektivierung von Wirklichkeitserfahrung, die sich mit dem Eintritt in die Moderne verstärkt. Blumenbergs Auffassung von Wirklichkeit als Text lässt den Roman schließlich sogar in "Konkurrenz der imaginären Kontextrealität mit dem vorgegebenen Wirklichkeitscharakter der gegebenen Welt" treten und lässt eine Aufwertung des historischen Romans vom rein mimetischen zum genuin poetischen Genre erkennbar werden.
    Die Erkenntnis, dass auch die Historiographie keine objektive Imitation der Vergangenheit darstellt, sondern narrative Konstrukte erzeugt, beeinflusst nachhaltig Formen und Inhalte der Gattung des historischen Romans der Gegenwart.

Linda Hutcheon definiert die aus der vorgestellten Entwicklung resultierende neue Ausprägung des historischen Romans der Gegenwart, den sie mit dem Begriff der historiographic metafiction bezeichnet. Der Skeptizismus gegenüber der Geschichtsschreibung, wie er in den Werken zeitgenössischer Historiker wie etwa Hayden Whites Metahistory zum Ausdruck gebracht wird, stellt eine Parallele zu dem zunehmenden Zweifel postmoderner Romane an empirische und positivistische Auffassungen von Realität – und damit von historischen 'Fakten' – dar.

Hayden White illustriert in Metahistory den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert als eine erkenntnistheoretische Transitions-periode, die schließlich in der von ihm als "Krise des Historismus" bezeichneten Grundstimmung resultierte und somit die Basis für historiographische Selbstreflexivität und eine metafiktionale Auseinandersetzung mit dem Begriff der Geschichte bildete.

Ein holistisches Bild der 'Menschheitsgeschichte' ist obsolet geworden, an seine Stelle rückt das individuelle Erinnern von einer bestimmten Perspektive aus in den Vordergrund. Vertreter der historischen Hermeneutik wie Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer nutzen, ähnlich dem literaturwissenschaftlichen Verfahren, von Geschichte und Konvention geprägte Vor-Urteile als produktive Basis für ein höheres Verständnis. Des weiteren gilt laut White der tropologischen Ebene der Interpretation historischer Texte verstärkte Aufmerksamkeit. Die Synthese von Hermeneutik und Historiographie bildet einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit.Historiographische Entwürfe, die Whites Forderung, "zur Diskontinuität zu erziehen", entsprechen, sind beispielsweise in Foucaults Archäologie des Wissens zu sehen, welche unter anderem die Basis der Strömung des New Historicism darstellt.

In Thorpes Romanen existiert kein einheitliches Bild von Wissen um die Geschichte, sie weist vielmehr das Charakteristikum der Unbestimmtheit auf. Die konkurrierenden Versionen von Ereignissen, deren Wahrscheinlichkeit und Wahrheitsgehalt zu beurteilen dem Leser überlassen bleibt, die Umdeutung der Funktionen von Alltagsgegenständen sowie die Befassung mit der retrospektiven Konstruktion möglicher Vergangenheiten durch das Leitmotiv der Archäologie zeigen Diskontinuitäten und Brüche in der Geschichte auf.

Die erste Monographie zum Romanwerk Adam Thorpes untersucht die folgenden Romane unter besonderer Berücksichtigung ihrer Geschichtsdarstellung:

Ulverton (1992)
Still (1998)
Pieces of Light (1998)
Nineteen Twenty-One (2001)
No Telling (2003)
The Rules of Perspective (2005)

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Simone Broders, As if a buidling was being constructed - Studien zur Rolle der Geschichte in den Romanen Adam Thorpes (Münster: LIT, 2008).
In der Publikation enthalten: Interview mit Adam Thorpe (2006).
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Adam Thorpe (*1956)

Adam Thorpe
ist ein britischer Schriftsteller, geb. 05.12.1956 in Paris, aufgewachsen in Beirut, Kalkutta, Kamerun und Südengland. Er besuchte die Marlborough Public School, danach das Magdalen College in Oxford (Abschluss in Englisch 1979). Mitbegründer des Equinox Travelling Theater ( 1984 Time Out Mime Street Entertainer of the Year Award), parallel Studium an der Desmond Jones School of Mime. Verheiratet, drei Kinder. Debütroman: Ulverton (1992), nominiert für den Booker Prize.

Sein aktueller Roman, Flight (2012), befasst sich mit dem ehemaligen Frachtpiloten Bob Winrush, der feststellen muss, dass er selbst im fernen Dubai vor seiner Vergangenheit nicht sicher ist - "Memory is an unwanted guest, and the past is sand".

Links zu Adam Thorpe

Offizielle Homepage
http://www.adamthorpe.net/


British Council: Contemporary Writers
http://www.contemporarywriters.com/authors/?p=auth95


Sound: Adam Thorpe liest aus The Rules of Perspective (British Council Germany, Walberberg Seminar 2006)
http://www.british-council.de/walberberg/thorpe06.htm


Video: Adam Thorpes Beitrag zur "New Writing Worlds" Konferenz, University of East Anglia (2008). Adam Thorpe eröffnet die Sektion mit einem Beitrag zu "Nature and Panic" und geht der Frage nach, weshalb der Klimawandel die meisten Menschen offenbar so wenig beunruhigt.

Teil 1
Teil 2
Teil 3